Montag, 21. Januar 2008

Anziehend Anzügliches

Leider ist in den Medien eine (nach subjektivem Eindruck) immer stärker zunehmende Ausdrucksverarmung zu beklagen. So wird in bezug auf Kleidungsfragen "anziehen", "anlassen" und „ausziehen“ gebraucht, ohne eine Differenzierung nach der Art des Kleidungsstückes respektive des angezogenen Gegenstandes vorzunehmen.

Dies ist bedauerlich, stellt doch die deutsche Sprache zu diesem Zwecke eigentlich eine Fülle von Partikelverben bereit:

jmdm./sich etwas anziehen“: Alle Arten von Kleidung, in die man mit einem oder mehreren Körperteilen hineinschlüpft, d. h. Ober- und Unterbekleidung, Schuhe, Socken, Handschuhe.

jmdm./sich etwas überziehen“: Ein Kleidungsstück wird über ein anderes, bereits am Körper befindliches gezogen, z. B. Jacken, Mäntel, aber auch Pullover, Socken usw.

Bei Kleidungsstücken wie Jacken, Mänteln oder Pullovern, die für gewöhnlich über anderen Kleidungsstücken getragen werden, ist auch dann der Gebrauch von „jmdm./sich etwas überziehen“ möglich, wenn mit ihnen nackte Haut bedeckt wird.

Somit ist die Bedeutung von „jmdm./sich etwas überziehen“ spezieller als die von „jmdm./sich etwas anziehen“, d. h. in allen Fällen, in denen „jmdm./sich etwas überziehen“ verwendet wird, kann auch „jmdm./sich etwas anziehen“ stehen. (Ausnahme: „jmdm./sich ein Kondom überziehen“: Ein handelsübliches Kondom kann man nicht anziehen. Mögliche Erklärung: Ein Kondom ist kein Kleidungsstück.)

jmdm./sich etwas aufsetzen“: Gilt für alles, was ohne größeren Aufwand an exponierten Stellen des Körpers befestigt wird, z. B. Brillen, Kopfbedeckungen (Hut, Mütze, Basecap), Ohrenwärmer, Pappnasen, Fingerhüte, Masken.

jmdm./sich etwas umlegen/anlegen“: Gilt für alles, was um den Körper bzw. einen Körperteil herum befestigt wird, z. B. Ketten, Bänder, Gürtel, Krawatten, Colliers.

jmdm./sich etwas umbinden“: Gilt für alles, was mit einem Knoten, einer Schlaufe, Schließe oder Schnalle um den Körper bzw. einen Körperteil herum befestigt wird, z. B. Tücher, Gürtel, Krawatten, Schals, Schürzen, Augenbinden.

jmdm./sich etwas umhängen“: Gilt für alles, was „um Schultern und Rücken“ (Bertelsmann Wörterbuch, 2004, umhängen) gehängt wird, z. B. Mäntel, Stolen, Umhänge, Boleros, Decken, Ferngläser.

jmdm./sich etwas anstecken“: z. B. Ringe, Broschen.

jmdm./sich etwas überstreifen“: Gilt für alle eng anliegenden Kleidungsstücke bzw. Accessoires, die „mit gleitender Bewegung“ (Duden, Deutsches Universalwörterbuch, 2006, streifen) angezogen bzw. angelegt werden, z. B. Pullover, Strumpfhosen, Leggings, Ringe, Kondome.

Darüber hinaus hat „jmdm./sich etwas überstreifen“ noch eine zweite Bedeutung: Kleidungsstücke „rasch, achtlos anziehen“ (Bertelsmann Wörterbuch, 2004, überstreifen) bzw. schnell überwerfen, z. B. Jacken, Mäntel.

Somit ist die zweite Bedeutung von „jmdm./sich etwas überstreifen“ eine engere Bedeutung von „jmdm./sich etwas anziehen“.

Analog zu der hier demonstrierten sprachlichen Variabilität des Anziehens verhält es sich mit „anlassen“ bzw. „ausziehen“:

jmdm./sich etwas anziehen“ > „etwas angezogen lassen; anlassen, anbehalten (ugs.)“ > „etwas ausziehen“

jmdm./sich etwas überziehen“ > „etwas angezogen lassen; anlassen, anbehalten (ugs.)“ > „etwas ausziehen“

jmdm./sich etwas aufsetzen“ > „etwas auf etwas lassen/behalten; auflassen, aufbehalten (ugs.)“ > „etwas absetzen, abnehmen“

jmdm./sich etwas umlegen/anlegen“ > „etwas umgelegt/angelegt lassen; umlassen, umbehalten (ugs.)“ > „etwas ablegen, abnehmen“

jmdm./sich etwas umbinden“ > „etwas umgebunden lassen; umlassen (ugs.)“ > „etwas ablegen/abbinden“

jmdm./sich etwas anstecken“ > „etwas angesteckt lassen; auflassen (ugs.)“ > „etwas abnehmen“

jmdm./sich etwas überstreifen“ > „etwas angezogen lassen; anlassen, anbehalten (ugs.)“ > „etwas abstreifen/ausziehen“

Die Grenzen zwischen den einzelnen Ausdrücken sind zum Teil fließend, d. h. die Verben können in manchen Fällen ausgetauscht werden. Gleichwohl sollte deutlich geworden sein, daß „anziehen“ in Verbindung mit Accessoires jedweder Art (seien es Kopfbedeckungen, Sehhilfen oder Schmuckstücke) kein adäquates Verb darstellt.

Er nahm die Brille ab, streifte den Ring über den Finger und setzte seinen Hut auf.

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